Ist jetzt Schluss mit der Diktatur der Titanen im Internet? Neue Regeln für digitale Dienstleistungen sollen für die verpflichtende Offenlegung von Algorithmen sorgen

22.11.2021
Die Europäische Union will die aus vor-Facebook-Zeiten stammende Regulierung durch ein Regelwerk für digitale Dienste ersetzen.

Die Unzufriedenheit mit dem unverhältnismäßig großen Einfluss, den Unternehmen für digitale Dienstleistungen ausüben, ist mittlerweile praktisch ein Klischee. Ob es nun darum geht, eigene Produkte zu pushen, oder um ein virtuelles Duopol der Entwickler mobiler Betriebssysteme der digitale Markt ist von Elementen übersättigt, die sehr wenig bis gar nichts mit freiem Wettbewerb und Chancengleichheit zu tun haben.

Dass Google und Facebook ihre Marktdominanz missbrauchen, ist kein Geheimnis – das wird beispielsweise von der New York Times anschaulich dargelegt und schließlich auch im jüngsten Briefing der Europäischen Kommission zum Entwurf des Regelwerks selbst erwähnt, auf das wir hier eingehen wollen.

Ja, bei Online-Plattformen, sozialen Netzwerken und Werbeunternehmen existiert bereits ein Tool, das zumindest grundlegende Standards vorgibt. Im Bereich der Bekämpfung der Verbreitung von Fehlinformationen gilt beispielsweise der europäische Verhaltenskodex zur Bekämpfung von Desinformationen, der das Ergebnis von Verhandlungen und einer anschließenden Vereinbarung zwischen der Europäischen Kommission und großen Online-Plattformen ist.

Die Idee dahinter ist, dass diese Verpflichtungen zu einer glaubwürdigeren, weniger toxischen Online- Umgebung beitragen – von „Transparenz im politischen Marketing“ bis hin zur „Löschung nicht authentischer Konten und der Verhinderung von Geldflüssen an Personen, die Desinformationen verbreiten“. Da es sich aber nur um einen freiwilligen, auf Selbstkontrolle beruhenden Pakt handelt, hinkt die Durchsetzbarkeit dieser Verpflichtungen stark hinterher. Da der Schwerpunkt auf Desinformation und Redefreiheit liegt, werden unlautere Geschäftspraktiken nur am Rande abgedeckt. Auch daher kommt das neue Gesetz über digitale Dienste ins Spiel.

Es wird Sie nicht wirklich überraschen, dass sich die Europäische Union bereits in der Vergangenheit um die Festlegung von Grundregeln für das Internetgeschäft bemüht hat. Die sog. eCommerce-Richtlinie, also die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr, wurde noch zu einer Zeit verabschiedet, in der Desktops die Größe von Fernsehgeräten der späten 1980er hatten. Auf seinen mageren acht Seiten konnte der Kern des im Jahr 2000 verfassten Textes die aufstrebenden Anbieter von Internetdiensten kaum vollständig abdecken, geschweige denn die ausgeklügelten Strukturen der digitalen Giganten.

Und die Notwendigkeit, ihrer Macht klare Grenzen zu setzen, liegt auf der Hand – allein schon deshalb, weil der Missbrauch ihrer Marktposition in engem Zusammenhang mit den Geschäftsmodellen der Internetkonzerne steht.

Grundsätzlich geht es im Gesetz über digitale Dienste daher um die Modernisierung des europäischen Ansatzes im Bereich der digitalen Dienste, also darum, sie transparenter, zugänglicher und freier zu machen. Die Regelung, an der wir mit den Piraten im Europäischen Parlament seit langem arbeiten, unterstützt dies in mehreren konkreten und Schlüsselpunkten.

Das in meinen Augen wichtigste Ziel ist der Schutz der Interessen der einzelner Nutzer und kleinerer Akteure durch eine klare Definition der Rechte zur Entfernung illegaler Inhalte. Die derzeitige Situation erlaubt es den großen Plattformen, Inhalte hinter verschlossenen Türen auf der Grundlage ihrer eigenen, internen Regeln zu bewerten und zu entfernen – ob es sich nun um Produkte in Online-Shops oder um Sprache in Netzwerken handelt. So können Inhalte auch entfernt werden, die aus rechtlicher Sicht völlig in Ordnung sind. Zudem sind die Möglichkeiten einer Überprüfung solcher Entscheidungen ziemlich begrenzt. Beides sollte sich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes über digitale Dienste ändern.

Die Harmonisierung der Pflichten digitaler Unternehmen in den einzelnen EU-Ländern und die transparentere Gestaltung des Verfahrens zur Durchsetzung der Entfernung von Inhalten wird auch das Vertrauen stärken, dass illegale Inhalte im Einklang mit den nationalen Vorschriften tatsächlich entfernt werden. Es muss aber auch zwischen gefährlichen und illegalen Inhalten unterschieden werden. Was in der greifbaren Welt legal ist, sollte auch in der Online-Welt legal sein. Allerdings sollte es nicht so sein, dass die digitalen Unternehmen jene Institutionen sind, die dies bestimmen.

Ich freue mich daher über die im Vorschlag enthaltene klare Position, dass „gefährliche“ Inhalte „im Entwurf des Gesetzes über digitale Dienste nicht definiert werden sollten“. Online-Inhalte sollten ausschließlich auf der Grundlage einer in ihnen enthalten Rechtswidrigkeit entfernt werden, und genau damit sollte das Gesetz über digitale Dienste arbeiten.

Der Vorschlag sieht auch ein klares und übersichtliches Meldesystem vor, das die nationalen Rechtsvorschriften respektiert und benutzerfreundlich ist.

Die Überprüfbarkeit der Entscheidungen von Plattformen, die die freie Meinungsäußerung der Nutzer oder die Möglichkeit, für ihre Produkte zu werben, durch die Sperrung von Inhalten einschränken können, ist für den Schutz einer freien, umfassenden Debatte und des Warenaustauschs von entscheidender Bedeutung.
Dies ist z. B. bei sog. „Upload-Filtern“ wichtig, die genau diese erwünschte Überprüfbarkeit bei Löschungen untergraben können. Aber darüber werde ich aber ein andermal ausführlicher schreiben.

Illegale Inhalte sind bei digitalen Diensten jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Das Gesetz über digitale Dienste enthält zum Beispiel auch klare Anforderungen an die Transparenz von Algorithmen in digitalen Diensten. Der Vorschlag sieht beispielsweise vor, dass in Fällen, in denen Plattformen bestimmte Inhalte empfehlen, für Benutzer die Möglichkeit bestehen muss, die Kriterien für die Auswahl der Inhalte anpassen zu können.Oder, dass Sie personalisierte Empfehlungen für sich gänzlich unterbinden können.

Darüber hinaus werden große Online-Plattformen mit einer Reichweite von mehr als 10 % der EU- Bevölkerung (45
Millionen Nutzer) als „systemisch“ eingestuft, und ihre Algorithmen werden von den europäischen Regulierungsbehörden genau unter die Lupe genommen. Die Nutzer großer Netzwerke können sich so besser darauf verlassen, dass sie nicht durch die Art der Informationen, die ihnen von den Algorithmen präsentiert werden, massiv und systematisch manipuliert werden.


Darüber hinaus weist der Internet-Markt, wie bereits erwähnte, bestimmte Merkmale auf, die große Unternehmen mit mehreren Geschäftsbereichen begünstigen. Anders als bei den „lehrbuchmäßigen“ Grundsätzen des freien Wettbewerbs gilt im digitalen Bereich normalerweise eine andere Regel, nämlich „the Winner takes it all“.

Kleinere Firmen, die heutzutage digitale Dienste nutzen wollen, haben in der Regel keine Wahl, als sich den Regeln und Anforderungen der großen Akteure zu unterwerfen, die natürlich daran interessiert sind, ihr Know-how und ihre Algorithmen für sich zu behalten. Und weil der Markteintritt teuer ist – und große Online-Player jedem Neuling Hindernisse in den Weg legen – gibt es entweder gar keinen oder nur einen von den „Marktführern“ kontrollierten Wettbewerb.

Der republikanische Generalstaatsanwalt von Texas, Ken Paxton, fasste den aktuellen Stand der Dinge in einem Video treffend zusammen, in dem er auch seine Absicht ankündigte, eine Klage gegen Google wegen monopolistischer Praktiken einzureichen: „Wenn der freie Markt ein Baseballspiel wäre, könnte man die Position von Google so bezeichnen: Schlagmann, Pitcher und Schiedsrichter in einer Person.“ Eine solche Kritik von einem Republikaner ist umso bissiger, als die Partei seit langem eine eher laue Haltung gegenüber staatlichen Eingriffen und der „Begradigung“ des Marktes einnimmt.

Der einzige Verlierer in diesem Spiel ist natürlich der Verbraucher digitale Dienstleistungen werden heute in praktisch jedem Bereich benötigt, und die Unmöglichkeit, zwischen mehreren Alternativen zu wählen, stärkt die Vorherrschaft der großen Unternehmen. Durch den so fehlenden Wettbewerb können sie einerseits ihre Preise fast beliebig in die Höhe treiben und andererseits oft auch ungünstigere Bedingungen für ihre Nutzer festzulegen.

Daher versucht das Gesetz über digitale Dienste auch diese düstere Situation zu erhellen – beispielsweise dadurch, dass es die Fähigkeit von Suchmaschinen, eigene Projekte im Suchergebnis „zu verbessern“ einschränkt oder externe Audits von Algorithmen auf den größten Online-Plattformen einsetzt .

Ob es nun darum geht, die morgendlichen Nachrichten im Netz zu lesen oder das Abendessen über eine App zu bestellen – es gibt nur wenige Technologien, die unser tägliches Leben so stark beeinflussen wie das Internet.

Es ist verständlich, dass viele Einzelpersonen und Unternehmen ihr Geschäft auf die Erbringung digitaler Dienstleistungen aufgebaut haben, und die Größe des digitalen Sektors spiegelt dies zu Recht wider. Nach Schätzungen der UNO beläuft sich die digitale Wirtschaft auf etwa 4,5 % bis 15,5 % des weltweiten BIP – was in etwa dem BIP der gesamten Europäischen Union entspricht.

Das bedeutet aber nicht, dass eine Handvoll großer Akteure den digitalen Raum für immer nur für sich beanspruchen kann etwa nur deshalb, weil sie als erste auf diesem Markt waren. Dies steht nicht nur im Widerspruch zu den Grundsätzen der freien Marktwirtschaft und des Wettbewerbs, den Grundfesten unserer Wirtschaft, nein es würde den „Großen“ so auch leichter fallen, die Interessen kleinerer Unternehmen und Lieferanten sowie der Endverbraucher zu übergehen.

Es ist an der Zeit, dass Europa die Ansichten aus der Zeit vor Google, Facebook und Amazon überdenkt und seine Regeln so aktualisiert, dass sie Innovationen nicht behindern, aber gleichzeitig die Nutzer angemessen schützen. Nur so wird es uns gelingen, ein modernes, flexibles und freies digitales Europa zu schaffen.