Italien: Menschenrechte? Ja, aber nicht alle!

14.12.2021
Ende Oktober torpedierte der italienische Senat ein Gesetz gegen Homophobie und die Diskriminierung von Minderheiten.

Auf einem Bahnhof werden zwei Männer von Hooligans brutal zusammengeschlagen, weil sie sich öffentlich küssten. Ständige Bedrohungen durch einen Nachbarn mit einem Baseballschläger, der androht, in der Nacht Ihre Wohnung und Ihr Auto anzuzünden. Ein Hände haltendes weibliches Paar, das bespuckt und beschimpft wird. Die Reaktion der Polizei? Lau. Das ist die Lebensrealität nicht weniger Menschen in Italien. Italien ist eines der letzten europäischen Länder, die keine nationalen Antidiskriminierungsgesetze zum Schutz sexueller Minderheiten haben.

Viele Menschen setzten große Hoffnung in ein schon lange in Vorbereitung befindliches Gesetz, das Diskriminierung von und Gewalt gegen LGBTQ+ Menschen, Frauen und Menschen mit besonderen Bedürfnissen als Hassverbrechen einstuft. Zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger unterstützen die Idee eines gerechten und freien Italiens für alle ohne Unterschied – die bedauerlicherweise auch weiterhin nur auf dem Papier besteht. Der diesbezügliche Gesetzentwurf wurde von der Kirche und Senatoren der extremen italienischen Rechten begraben, die die Verabschiedung dieses Gesetzes mit nur 23 Stimmen Überhang zu Fall brachten.

Mit der Ablehnung des Antidiskriminierungsgesetzes nähert sich Italien allmählich Ländern wie Polen und Ungarn an, wo die Regierungen in den letzten Jahren künstlich Hass gegen Minderheiten und LGBTQ+-Menschen schüren und sie zu Sündenböcken machen. Dies, obwohl die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zur Achtung und aktiven Überwachung der Einhaltung der Grundwerte, also der Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte, einschließlich der Rechte von Minderheiten, verpflichtet sind.

In Europa darf nicht mit zweierlei Maß gemessen werden. Polen und Ungarn werden (nicht nur dafür) kritisiert, dass sie die Rechte von Minderheiten mit Füßen treten, während die Situation in Italien von der Union eher lauwarm beklagt wird. Alle Mitgliedstaaten sollten ausnahmslos alle Werte hochhalten, zu deren Verteidigung sie sich durch ihre Mitgliedschaft in der EU verpflichtet haben.


Minderheitenrechte


Italien ist das einzige westliche EU-Land, in dem es keine landesweit gültigen Gesetze gegen die Diskriminierung sexueller Minderheiten gibt. Neben Italien herrschen nur in Polen und Litauen derartige Zustände. In Italien gibt es zwar ein Gesetz gegen Diskriminierung und Hassreden aus dem Jahr 1993, das sogenannte „Mancini-Gesetz“ – doch darin sind lediglich „rassische, ethnische, nationale oder religiöse“ Hassmotive erwähnt.

Antidiskriminierungsgesetze sollen in erster Linie gefährdete Personengruppen vor physischen aber auch anderen Formen der Diskriminierung zu schützen. In diesem Fall könnte das Gesetz beispielsweise LGBTQ+-Personen davor schützen, allein aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung entlassen zu werden. Im Fall einer nachweislichen Diskriminierung aufgrund einiger der genannten Werte drohen dem Täter, der Täterin eineinhalb Jahre Gefängnis oder eine Geldstrafe in Höhe von 6 000 Euro.

Ein solches Gesetz wäre dringend notwendig – in Italien werden jedes Jahr rund 20.000 Fälle von Diskriminierung einer Person aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung gemeldet, wobei es sich in etwa 9 % der Fälle um tatsächlich ernsthafte Probleme handelt. Darüber hinaus liegt das Land in Bezug auf die Toleranz gegenüber LGBTQ+-Personen weit unter dem EU- Durchschnitt. Laut Eurobarometer tolerieren nur 55 % der Italiener sexuelle Minderheiten, während der EU-Durchschnitt bei 72 % liegt.

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Die Kirche und die extreme Rechte


Die Vertreter der italienischen Rechtsextremen und des Vatikans sprechen sich sehr lautstark gegen die Aufnahme sexueller Minderheiten in das Antidiskriminierungsgesetz aus. Wie in anderen Ländern auch, bedienen sich diese Parteien in Bezug auf sexuelle Minderheiten völlig unsinniger Argumente. Besonders rasant positioniert sich der ehemalige Europaabgeordnete und Vorsitzende der Lega Nord, Matteo Salvini, ein langjähriger Verbündeter anderer rechtsextremer europäischer Politiker wie Marine Le Pen, Geert Wilders und sogar Tomio Okamura, gegen dieses neue Gesetz.

Laut Salvini wäre dies ein „Gesetz gegen die Meinungsfreiheit“. Zudem warnt er, dass das neue Gesetz die traditionelle, aus Mann und Frau bestehende Familie direkt bedroht und Vertreter traditioneller Werte allein aufgrund ihrer diesbezüglichen Ansicht vor Gericht landen könnten. Ich habe keine Ahnung, in welcher Welt die Rechtspopulisten leben, aber in der normalen Welt ist das Verprügeln von Menschen auf der Straße wegen ihrer sexuellen Orientierung wirklich keine freie Meinungsäußerung, sondern ein abstoßendes Verbrechen.

Der Vatikan, dem das Gesetz ebenfalls nicht gefällt, argumentiert ähnlich. Im vergangenen Juni begann er beispielsweise grundlos Druck auf die italienische Regierung auszuüben, um den Wortlaut des Gesetzes zu ändern, da man die „Gedankenfreiheit der katholischen Kirche“ bedroht sah. Was genau eine solche Gedankenfreiheit bedeutet, mag jeder für sich selbst interpretieren.

Der Süden geht ... Richtung Osten?

Leider ist die extreme Ablehnung des Antidiskriminierungsgesetzs seitens italienischer rechtsextremer und konservativer Politiker nichts Neues. Ähnliche Fälle sind bedauerlicherweise auch in weiter östlich gelegenen anderen Mitgliedstaaten bereits seit längerem zu beobachten. So arbeiten die konservative polnische Partei PiS von Jarosław Kaczyński und die ungarische Fidesz-Partei des Oligarchen Viktor Orbán, sehr zum Missfallen der aufgeschlossenen Bevölkerungsmehrheit in der EU, schon seit Langem an der Unterdrückung der Rechte sexueller Minderheiten in ihren Ländern.

Vor der Machtübernahme der konservativen Fidesz-Partei verbesserten sich in Ungarn die Lebensbedingungen und Rechte von LGBTQ+-Menschen. Doch Viktor Orbán arbeitet seit seinem Regierungsantritt daran, Minderheiten als Bedrohung für die ungarische Nationalität, Kultur und Familie darzustellen. So verwandelte er Minderheiten zu imaginären Boxer- Sandsäcken, auf die er die Aufmerksamkeit lenkt, wenn seine Regierung etwas falsch macht.

Die Rechte der sexuellen Minderheiten wurden in diesem Land stark, um nicht zu sagen radikal, beschränkt wozu auch das Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe und der Adoption von Kindern durch solche Paare zählt. Der jüngste Schlag gegen die Menschenrechte ist das neue sogenannte „Anti-LGBTQ+“-Gesetz, das diese Personengruppe,nach russischem Vorbild, quasi „verbannt“.

In Polen war die Wahrnehmung sexueller Minderheiten aufgrund der wichtigen Rolle der Kirche, die sich offen gegen die Rechte sexueller Minderheiten stellt, immer etwas vorsichtiger. Seit dem Regierungsantritt der PiS wurden sexuelle Minderheiten allerdings regelrecht zum Spielball dieser konservativen Partei, ganz nach ungarischem Vorbild. Spitzenpolitiker der PiS befürworten offen diskriminierende Gesetze gegen die LGBTQ+-Gemeinschaft und bezeichnen Homosexualität als „Ideologie“. Vor einigen Jahren, als etwa ein Drittel der polnischen Bevölkerung mit der lautstarken Unterstützung der PiS zur „Anti-LGBT-Zone“ erklärt wurde, spitzte sich die Lage zu.

Dass sich die Visegrad-Länder von den italienischen Rechtsextremen inspirieren lassen, ist unübersehbar. Der Liebling der äußersten rechten Ecke Italiens, Matteo Salvini, verhandelt bereits mit den Vertretern beider Länder über die Gründung eines Klubs im Europaparlament, in dem sie höchstwahrscheinlich die Schritte des Visegrad-Quartetts fortsetzen wollen – Rechtsstaatlichkeit, bürgerliche Freiheiten und den Aufstieg des Autoritarismus.


Menschenrechte müssen verteidigt werden


Die Europäische Union beruht auf mehreren Grundwerten und Prinzipien, zu deren Einhaltung sich alle Mitgliedstaaten verpflichtet haben. Einer davon ist in Artikel 2 des EU- Vertrags festgeschrieben, in dem es eindeutig heißt: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichstellung von Frauen und Männern auszeichnet.“

Die Europäische Union muss allen ihren Bürgern, unabhängig von deren Rasse, Geschlecht oder sexueller Ausrichtung, gleiche Freiheiten und Bürgerrechte garantieren. Gegen Polen und Ungarn sind bereits Gerichtsverfahren im Gange, und die Kommission hat Artikel 7 des EU-Vertrags aktiviert. Ich bedauere sehr, dass die Kommission sich zwar (zu Recht) mit diesen Ländern befasst, die Unterdrückung der Menschenrechte ihrer Bürger in Italien aber bisher relativ unbeachtet geblieben ist.

Die europäischen Gesetze und Grundsätze müssen in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen durchsetzbar sein, ebenso wie sich alle Mitgliedstaaten bemühen müssen, die europäischen Gesetze und Werte, zu denen sie sich verpflichtet haben, zu respektieren und einzuhalten. Die Kommission sollte daher intervenieren und sich mit der Situation in Italien befassen. Die europäischen Minderheiten sind durch den zunehmenden Trend zur Diskriminierung auf Kosten des Aufstiegs populistischer autoritärer Regierungen bedroht. Wenn die Kommission diese Werte nicht sofort konsequent durchsetzt, kann es beim nächsten Mal vielleicht schon zu spät sein.