Ägypten – Urlaubsparadies und Menschenrechtshölle. Europa kann helfen

01.06.2022
In der letzten Dekade gab es in Ägypten gleich mehrere Revolutionen. Insgesamt scheint dadurch aber alles nur noch schlimmer geworden zu sein.

Während der letzten zehn Jahre stolperte das Land von einer humanitären Krise in die nächste. Laut der US-amerikanischen Organisation Freedom house steht Ägypten auf den untersten Sprossen der freien Welt. Das ist nicht weiter verwunderlich, schließlich werden die Menschenrechte der Ägypter seit langem von einem Autokraten unterdrückt, der vor Jahren am Sturz der ehemaligen Regierung mitgewirkt hatte.

Auf der Suche nach Alternativen zur Abhängigkeit von russischem Gas blickt Europa auch nach Ägypten, einem der potenziellen Favoriten in diesem grausamen Spiel. Der Gashandel könnte für beide Seiten vorteilhaft sein, sollte aber an Bedingungen geknüpft werden, insbesondere an eine Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit in Ägypten.

Ein Tyrann ersetzte einen Tyrannen

Das letzte Jahrzehnt in Ägypten lässt sich wohl am besten in zwei Worten zusammenfassen: völliges Chaos. Das Land hat in kurzer Zeit mehrere Präsidenten und zwei Putsche erlebt. Ergebnis des mehrjährigen Chaos ist, dass der ehemalige langjährige Staatschef, der autoritäre Mubarak, durch den viel schlimmeren autoritären Despoten Abdel Fatah El-Sisi, ersetzt wurde.

Ähnlich wie andere, weltweit unrühmlich bekannte Autokraten, begann auch der vom Militär unterstütze ehemalige Oberbefehlshaber der ägyptischen Streitkräfte El-Sisi gleich nach seiner Machtübernahme damit, die Gerichte zu kontrollieren. Als ägyptischer Präsident konnte El-Sisi die wichtigsten ägyptischen Richter, einschließlich des Generalstaatsanwalts, ernennen und einsetzen. So regiert an der überwiegenden Mehrheit der Gerichte Korruption und die Verhandlungen laufen im Sinne und nach Wunsch des Präsidenten.

Um die Unabhängigkeit der Gerichte steht es in Ägypten aber noch viel schlimmer. Seit dem vergangenen Jahr ist nämlich ein Gesetz in Kraft, demgemäß beschuldigte Zivilisten auch vor ein Militärgericht gestellt werden können. Diese arbeiten, wie nicht anders zu erwarten, häufig im Interesse der Armee und verurteilen Beschuldigte oft aufgrund lächerlicher und erfundener Anschuldigungen.

Auch um die politische Pluralität und die Meinungsfreiheit ist es denkbar schlecht bestellt. Zahlreiche politische Parteien sind im Land verboten und die Hälfte der 568 Abgeordneten im Parlament wird aus nicht öffentlichen Parteilisten gewählt. Darüber hinaus hat der Präsident das Recht, 28 „zusätzliche“ Abgeordnete nach eigenem Ermessen zu ernennen.

2020 fanden nach langer Zeit wieder Senatswahlen statt. Diese Kammer war seit 2014 abgeschafft gewesen. Einhundert Mitglieder des Senats werden als Einzelkandidaten gewählt, weitere 100 aus dem System der nicht öffentlichen Listen, bei dem lediglich die Parteien gewählt werden kann. Die letzten 100 werden vom Präsidenten persönlich ernannt, der damit praktisch die volle Kontrolle über den Senat hat. Zudem hat der Senat keine besonders wichtigen legislativen Befugnisse und spielt eher eine ästhetische Rolle.

Gefängnis für alle

Die ägyptische Regierung hält sich vor allem durch massiven Terror gegen ihre eigenen Bürger an der Macht. Hier kann jede und jeder im Gefängnis landen, der oder die etwas gegen die Regierung sagt, egal, ob es sich bei dieser Person um einen Oppositionspolitiker, eine Journalistin, einen Richter oder etwa eine Bloggerin handelt. Seit 2015 gilt hier das sog.„Gesetz gegen den Terrorismus“, nach dessen sehr allgemeiner Definition des Begriffs „Terrorismus“ praktisch jede beliebige Person festgenommen werden kann. Unbedingt zu erwähnen ist auch, dass Ägypten 2021 mit schätzungsweise rund 120.000 inhaftierten Personen im Ranking jener Länder mit den meisten verhafteten Journalisten weltweit an dritter Stelle lag.

Der Missbrauch von Häftlingen und die Umgehung von Gerichtsurteilen stehen hier auf der Tagesordnung. Die staatlichen Sicherheitsbehörden halten Gefangene durch Erfindung neuer Haftgründe ungerechtfertigt in Haft. Wenn jemand aus der Untersuchungshaft entlassen werden soll, beschuldigen die Behörden eine solche Person nicht selten einer ähnlichen Straftat wie zuvor und halten sie für weitere Jahre fest. Gegen eine solche „Rotation“ ist man praktisch machtlos, und die Regierung kann auf diese Weise ihr unliebsame Zeitgenossen, also Regimekritiker und Menschenrechtler, künstlich in Haft halten.

Der Zustand der ägyptischen Gefängnisse ist dabei absolut alarmierend. Insbesondere politische Gefangene berichten häufig über Folter und Misshandlungen durch die Sicherheitskräfte. Die Gefängnisaufseher schlagen die Gefangenen, foltern sie mit Stromschlägen [1] oder sperren sie auf unbestimmte Zeit in Einzelhaft. Zudem sind die hygienischen Bedingungen in den zumeist heillos überfüllten Gefängnissen katastrophal. Laut Amnesty International starben im Jahr 2021 in ägyptischen Gefängnissen mindestens

56 Menschen aufgrund der entsetzlichen Bedingungen und vier (4) weiter an den Folgen von Folter. [2]

So mancher hat aber nicht das „Glück“, wenigstens nur inhaftiert zu werden. In Ägypten gibt es nämlich noch die Todesstrafe, die die örtlichen Gerichte gerne am Ende ihrer sehr ungerechten und überstürzten Gerichtsprozesse aussprechen. [3] [4]

Diskriminierung von Minderheiten

Es werden bei weitem nicht nur Journalisten und Regimekritiker inhaftiert und in ihren Menschenrechten massiv eingeschränkt. Aktuell wird in Ägypten beispielsweise ein Gesetzentwurf diskutiert, der Frauen praktisch zu unmündigen Wesen degradiert. Verwaltungsangelegenheiten wie etwa die Schulanmeldung ihrer Kinder müssen Frauen über ihre Ehemänner erledigen, auch wenn sie schon lange geschieden sind. Laut diesem Gesetz soll es einem männlichen Vormund künftig auch möglich sein, die Ehe einer Frau ohne deren Zustimmung gerichtlich annullieren zu lassen kann.

Zudem werden Frauen auch wegen völlig sinnloser und erfundener Anschuldigungen von Gerichten verfolgt. So wurden im vergangenen Jahr zwei Influencerinnen wegen ihres Verhaltens und wegen der Anstiftung zu „unanständigen“ Inhalten zu sechs bzw. zehn Jahren verurteilt. Selbst im Fall erlittener sexueller Gewalt kommen Frauen nicht zu ihrem Recht. Im letzten Frühjahr ließen die Behörden beispielsweise alle im Fall einer Massenvergewaltigung einer Frau in einem Hotel in Kairo im Jahr 2014 Angeklagten frei.

Sexuelle Minderheiten und LGBTQ+-Menschen werden weiterhin festgenommen und zu unglaublich langen Haftstrafen verurteilt. Gegen Angehörige sexueller Minderheiten verhängen die Gerichte allein aufgrund einer solchen Angehörigkeit Freiheitsstrafen von bis zu neun Jahren, und sogar ein Fernsehreporter, der einen schwulen Mann interviewt hatte, musste eine einjährige Gefängnisstrafe absitzen.

Auch die christliche ägyptische Gemeinschaft, die 5 bis 15 % der ägyptischen Bevölkerung ausmacht, kämpft mit Problemen. Die Regierung schafft es nicht, die Christen in der nördlichen Region des Sinai zu schützen, die schon seit vielen Jahren von örtlichen Radikalen mit Verbindungen zum Islamischen Staat tyrannisiert und getötet werden. Ganz im Gegenteil, 2016 führte sie ein diskriminierendes Gesetz gegen Christen hinsichtlich des Baus und der Reparatur von Kirchen ein. Demnach muss jede Kirche von den örtlichen Sicherheitsorganen genehmigt werden. Seit der Einführung dieses Gesetzes wurden lediglich 20 % der diesbezüglichen Anträge positiv beschieden.

Europa kann helfen!

Die Europäische Union verschließt seit langem die Augen vor der Brutalität des El-Sisi- Regimes. Bei El-Sisis kürzlichem Besuch in Brüssel anlässlich des Gipfels der Europäischen und Afrikanischen Union wurde dieser Diktator sogar von den anwesenden Politikern für seinen Kampf gegen Terrorismus und illegale Migration gelobt.

Politiker und gemeinnützige Organisationen versuchen seit Jahren, die Situation in Ägypten zu entschärfen, bisher jedoch vergeblich. Die Vereinigten Staaten setzten im vergangenen Jahr sogar ihre Militärhilfe in Höhe von 130 Millionen US-Dollar an Ägypten für so lange aus, bis das Land bestimmte Menschenrechtsanforderungen erfüllt. Europäische Politiker haben in diesem Jahr die UNO aufgerufen, die Menschenrechtsverletzungen in Ägypten zu überwachen.

Wenn Europa aber tatsächlich dazu beitragen möchte, dass die unglaublichen Verbrechen gegen die Menschenrechte in Ägypten beendet werden, ist jetzt der ideale Zeitpunkt dafür. Ägypten läuft derzeit Gefahr, dass wegen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine die dringend benötigten Weizenlieferungen ausbleiben, von denen das Land stark abhängig ist. Der Mangel an Nahrungsmitteln und Finanzen für den Kauf von Nahrungsmitteln könnte eine noch größere humanitäre Katastrophe in Ägypten auslösen und das Land in ein noch größeres Chaos stürzen.

Europa könnte diese Krise durch den Kauf von ägyptischem Gas erheblich entschärfen. Allerdings sollte ein solcher Gas-Deal an die Bedingung geknüpft werden, dass die Rechtsstaatlichkeit in Ägypten verbessert wird – beispielsweise durch eine Stärkung der Unabhängigkeit der Gerichte, die Lockerung der Medienzensur und den Abbau der Diskriminierung von Frauen und Minderheiten.

Ein solches günstiges Abkommen würde letztlich beiden Seiten zugutekommen: Europa würde die benötigten Gaslieferungen erhalten, Ägypten würde nicht von kriegsbedingten Hungersnöten heimgesucht werden, das Land würde durch die Gasverkäufe die nötigen Finanzmittel und die Bürger mehr Rechte und Freiheiten erhalten.